Von Flecken und Erinnerungen
Nichts wird mehr so schmecken wie früher. Die Farben verblassen und ein Gefühl von Unendlichkeit breitet sich in meinem Bauch aus. Unbequeme Hoffnung fällt aus allen Wolken, desillusioniert sitze ich wieder auf dem harten Boden der Tatsachen. Ich habe es mir so gewünscht, daß sie kommt; konnte die Entfernung zwischen ihr und mir kaum noch ertragen.
Dieses Gefühl von Vertrautheit und Nähe zu lange vermißt. Ich komme mir vor wie ein halber Mensch, der auf Entzug von seiner anderen Hälfte gesetzt wurde.
Ein Stuhl nimmt mir die Luft zum Atmen. Einen Stuhl hat sie zwischen uns geschoben. Was für eine Ausrede! Ein Stuhl ist ein Gebrauchsgegenstand, der beim Gebrauch verschleißt. Natürlich ist ein Fleck ärgerlich, aber ist ein Fleck ein Grund, um nicht zu kommen?
Ich weiß, wie das ist: man möchte am liebsten den Fehler rückgängig machen. Aber je mehr man versucht, den Fleck zu entfernen, desto größer wird er. Genauso ist das auch mit Gefühlen, die man sich versucht auszureden. Je weniger man davon wissen will, umso stärker kommen sie zurück.
Natürlich ist so ein alter Stuhl wertvoll, aber der ideelle Wert ist ja nicht einmal beschädigt worden. Glücklicher alter Stuhl. Wenn ich daran denke, das sie ihn jetzt berührt und er ihr nahe ist, geht es ihm wesentlich besser als mir. Wer entfernt die Flecken auf meinen Gefühlen?
Ein alter Stuhl ist ihr offensichtlich wichtiger als mit mir zusammen zu sein! Das ist hart. Hätte sie lieber gesagt, daß sie keine Lust hatte zu kommen. Oder soll sie mir klar sagen, daß ich sie nicht mehr anrufen soll. Dann weiß ich wenigstens woran ich bin, aber ein Stuhl? Hätte sie gesagt, daß ich kommen soll – ich wäre gekommen, keine Frage. Schließlich habe ich mir heute freigenommen.
Vielleicht hat sie Angst davor, wie es weitergehen soll? Ich habe selbst große Angst und keine Ahnung wie es weitergeht…
Ob ich etwas vorbereitet hätte? Natürlich hatte sich jede Faser meines Körpers darauf gefreut, sie zu sehen, zu riechen, zu spüren. Meine Seele hatte sich darauf vorbereitet, eine kleine Ewigkeit mit einem Seelenfreund zu verbringen, wieder eins zu sein mit der lange vermißten anderen Hälfte. Nur hätte ich ihr das am Telefon unmöglich sagen können. Vielleicht hätten wir irgendwo etwas gegessen, wären in der Stadt umhergelaufen, hätten im Kaufhaus herumgealbert oder wären ins Kino gegangen. Was wir gemacht hätten, wäre mir fast egal gewesen. Nur an ihrer Seite wollte ich sein.
Ich kenne das, wenn man etwas ungeschehen machen will. Man steigert sich da hinein und vergißt alles um sich herum. Ich bin selbst so und kenne das nur zu gut. Deshalb kann ich ihr nicht einmal richtig böse sein. Schließlich bringt sie mich wieder dazu, zu schreiben. Schon wieder ertappe ich mich dabei, die Handlungen von anderen zu entschuldigen.
Aber was bleiben wird, ist die Enttäuschung, weniger wert zu sein als ein Stuhl. Nicht einmal angerufen hat sie, wie versprochen. Was bin ich für sie? Komme ich in ihrem Buch vor, das sie schreibt? Habe ich nur einen Gastauftritt oder vielleicht eine Nebenrolle? Fragen, die mich beschäftigen.
Ich werde das Telefon einige Zeit nicht in die Hand nehmen. Zu groß ist mir die Enttäuschung noch ins Gesicht geschrieben und zu groß ist die Versuchung, alles kaputt zu machen. Gibt es da überhaupt etwas, das kaputt gehen kann oder habe ich mir das alles nur so sehr gewünscht, daß es mir wie Wirklichkeit vorkam? Alles, was ich habe, ist die Vorstellung von diesem heutigen Tag, wie er vielleicht ausgesehen hätte.
Ich werde in den nächsten Tagen ein bischen auf Distanz gehen – zu mir selbst. Nicht, daß ich es wirklich wollte, nein, einfach nur, um herauszufinden, was ich eigentlich will. Ich bin gespannt auf die Antworten.
Und selbst wenn nichts passiert, wird dieser Tag doch als makelloser (fleckenloser) Tag in meiner Erinnerung bleiben, so wie man vielleicht den Fleck auf dem Stuhl immer ein bischen sehen wird…
von Mathias Bleckmann